We’re all crazy – Iain Abernethy in Stuttgart

We’re all crazy – Iain Abernethy in Stuttgart

(Lesezeit: 5 Minuten)

Zu Iain Abernethy sensei braucht man in Karatekreisen eigentlich nicht allzu viel zu erklären: 7. Dan, aus England, beschäftigt sich seit Kindertagen mit Karate und ist renommierter Buchautor. Seine Spezialthemen sind Selbstverteidigung und Kata-Bunkai (die „Entschlüsselung“ der Einzeltechniken von Kata). Er unterrichtet weltweit auf Seminaren. Der Mann ist also eine Koryphäe, und – wie ich in Stuttgart auch live feststellen konnte – dazu noch ein sehr sympathischer und humorvoller Erzähler (mit gewöhnungsbedürftigem Slang, wenn man Schul-Englisch gewohnt ist).

Auf seinem Youtube-Kanal „practicalkatabunkai “ bekommt man schon beim Trailer-Anschauen einen guten Eindruck davon, wie er Karate für die Selbstverteidigung zur Anwendung bringt.

 

Bullenheiß war’s am letzten Juni-Wochenende, ca. 100 Karateka hatten sich in der Wolfbuschhalle in Weilimdorf zusammengefunden. Die meisten wie zu erwarten Dan-Träger, nur wenige trugen Kyu-Grade. „O.k., dann bin ich schon mal nicht der Einzige, der nicht über ein Repertoire von 20 oder mehr klassischen Kata verfügt“, denke ich. Denn um Kata und ihre Anwendung soll es heute gehen. Dass ich keine dieser Kata kann, stellt sich als vollkommen egal heraus.

Wir üben einen kurzen Drill: Den Nacken des Angreifers fassen, zwei schnelle Handballenstöße ins Gesicht und sofort noch einen Ellenbogen hinterher, mit der rechten Hand linksrum um den Kopf fahren, die Person nach vorne ziehen, um einen Kniestoß zu geben, weiter zu Boden bringen, noch einmal tettsui auf den Kopf/Nacken oder Rücken schlagen und noch auf den Fuß oder das Fußgelenk stampfen, bevor man sich entfernt. O.k., der Typ dürfte fertig sein, eindrucksvoll.

Am Beispiel einiger Stellen aus klassischen Kata zeigt uns Iain, dass viele Kata oft fehlinterpretiert werden. Die Distanz spielt dabei seiner Ansicht nach eine Schlüsselrolle, denn oft geht man davon aus, dass sich Gegner – wie in Chuck-Norris-Filmen – so auf 2-3 oder 4 Meter gegenüberstehen. In Selbstverteidigungssituationen gibt es dabei aber aus Iains Sicht gar keinen Kampf, denn beide könnten ja jederzeit einfach davonlaufen. Der Kampf entsteht erst, wenn der Abstand überbrückt wurde, man sich also in der Nahdistanz befindet, so dass man treten, schlagen oder auch zugreifen kann. Und wie gesagt machen die meisten Techniken der Kata viel mehr Sinn, wenn man von unmittelbarer Nahdistanz ausgeht. Da ich sämtliche erwähnten Kata sowieso nicht beherrsche, kommt mein Weltbild dadurch zum Glück nicht ins Wanken. Aber ich speichere nochmal ab, dass Karate sich ursprünglich als Selbstverteidigung und damit für die Nahdistanz entwickelt hat.

Einer der Pioniere in der Entwicklung des Karate auf Okinawa war Motobu Choki, er lebte von 1870 bis 1944. Er hat u. a. zwölf Partnerdrills/Kumite-Abläufe erdacht, durch deren Erlernen und Einstudieren man auf verschiedene Angriffe reagieren können soll. Einige dieser Drills haben wir mit unserem Partner ausprobiert. Was sie gemeinsam hatten und was auch Iain Abernethy als eines von Motobus Grundprinizipien herausstellte: Man geht ausschließlich nach vorne, es gibt niemals ein Zurückweichen. Unter Selbstverteidigungsaspekten erscheint das schlüssig. Wenn man sich z. B. Krav-Maga-Techniken anschaut, sieht man das auch; das Prinzip ist, so schnell und so hart wie möglich zu antworten. Als alleinige Wahrheit würde ich dieses Niemals-Zurückweichen jedoch nicht gelten lassen, denn es gibt auch eine Menge Techniken, bei denen man den Angriff eher annimmt und umleitet, um z. B. einen Hebel oder Wurf anzusetzen. Das Eine ist eben reine Selbstverteidigung, das Andere ist Kampfkunst, wo man sich mit allen Möglichkeiten beschäftigen darf. Aber heute geht es um Selbstverteidigung.

Ein weiteres interessantes Prinzip und Thema auf unserem Seminar ist das der „naheliegendsten Waffe“. Im „Clinch“ war die Aufgabe, dass der eine Partner nur locker verteidigt und der andere nach Lücken sucht, um z. B. Ellenbogen, Tritte, Kopfstöße, Griffe in die Weichteile, Augenstechen und sogar Bisse anzubringen. Nach Ablauf von einer Minute ist der andere Partner an der Reihe. Iain Abernethy hat erklärt, dass solche spielerischen – und vor allem sehr spaßigen – Übungen grundsätzlich ein gutes Kumite-Training darstellen. Steve und ich haben noch lustige Geräusche eingebaut, z. B. ein „Biep!“ beim Augenstechen, welches zur Schonung der Sehorgane natürlich nur gegen die Stirn ausgeführt wird. In Iains Dojo gehören solche Übungen nach seiner Aussage zum Standardprogramm, man lernt Bewegungen des Partners (Gegners!) früh zu erspüren oder zu sehen und Lücken zu erkennen und auch zu erschaffen.

Ganz wichtig dabei: Aufeinander achten! Beide Partner brauchen für den motivierenden Spaßfaktor ihre Erfolgserlebnisse. Und niemandem nutzt es etwas, wenn Leute im Training sind, die unbedingt beweisen möchten, dass sie besser oder stärker sind als andere. Die wichtigste Person im Dojo ist immer der Trainingspartner. Ihn muss man gut hegen und pflegen, sich auf ihn, seinen Leistungsstand und seine Konstitution, aber auch auf die für ihn passende Trainingsintensität einstellen – denn man möchte mit und von ihm lernen. Und man will, dass auch er zum nächsten Training wieder im Dojo erscheint. Iains humorvolles Dojo-Motto heißt deswegen „No heroes, no assholes!“ Großartig, oder?!

Zurück zu unserem Partnerdrill vom Anfang – jetzt holen wir endlich die Pratzen raus! Und es wird laut! Abwechselnd ziehen wir die Pratzen an und spielen den Dummy, dann tauschen wir. Iains Auftrag an uns: Vollgas geben und dabei richtig Aggression rauslassen, da einem dies in echten SV-Situationen noch mehr Power gibt und es das Gegenüber vielleicht einschüchtert. Wir hauen uns also schön, die meisten brüllen sich dabei an, es ist einfach herrlich… obwohl es zumindest mich auch etwas nachdenklich macht. Steve wirkt auch nicht, als wäre das total sein Ding. Tja, das Thema Aggression. Ob man überhaupt Aggression in sich trägt, um so etwas in einer SV-Situation abzurufen, das möchte ich zumindest für meine Person doch arg in Frage stellen.  Vielleicht sind solche Drills etwas, was wir öfter üben sollten? Die Frage ist, ob man, angegangen von keine Ahnung wem, nicht eher perplex/baff/überrascht/verständnislos oder sonstwie reagiert, im schlimmsten Fall wie gelähmt, und damit einen guten Teil des Verteidigungsmoments vergibt. Da ist ganz viel wirklich Typsache. Was „nutzt“ jede Kampfkunst, wenn man im Ernstfall nicht der „Typ dafür“ ist???

Iains Yame holt mich gedanklich wieder in die inzwischen brütend heiße Sporthalle zurück. Sein Kommentar danach in etwa: „We’re all crazy, spending a weekend at 39° in a gym and beating the crap out of each other while our neighbors are sitting in their gardens drinkin‘ some cold stuff. O.k., of course we‘re crazy – I mean, we’re martial artists. That IS crazy, isn’t it?“

Diese Aussage hallt auf dem Heimweg in meinem Kopf nach, der brummt nämlich ordentlich. Verrückt, ja, schon irgendwie.

 

Der Sonntag steht im Zeichen des Bodenkampfes. Iain wird uns an eine von ihm selbst erdachte Boden-Partnerform heranführen. Es geht darum, aus diversen Mounts/Haltegriffen etc. wieder herauszukommen, oder gar nicht erst hineinzugeraten, indem man den Ausführenden im rechten Moment stört und eine eigene Technik ansetzt. Iain erklärt dazwischen wieder sehr viel und setzt noch ein wichtiges Statement: Die Kampfkunst ist ein weites Feld, und die meisten sind ihrer Lieblingsecke unterwegs, Karateka schlagen und treten die meiste Zeit. Um ein etwas abgerundeter Kampfkünstler zu werden, und gerade im Hinblick auf Selbstverteidigung, sollte man ein wenig über den Tellerrand schauen. Einem Karateka schade es keinesfalls, wenn er sich z. B. im Bereich Fallen/Werfen/Hebeln mal zirka auf Judo-Orangegurt-Niveau bewegt. Da bleibe man immer noch Karateka. Es grüßt an dieser Stelle herzlich Patrick McCarthy hanshi, „thinking out of the box“.

Mittags ist dann Schluss, Ende des Seminars. Affenhitze und wieder gar nicht so viel trinken können, wie rausgeschwitzt.

Vielen Dank an Steve für’s Begeistern, Mitnehmen und Riesenspaß, ans Uni-Dojo Stuttgart für’s Ausrichten und an Iain Abernethy sensei für die Übungen, amüsanten Geschichten und reichlich Denkanstöße. Und seine Begeisterung! Wenn ihr mal einige seiner Erklär-Videos anschaut, dann seht ihr, wie seine Augen beim Thema Karate glänzen. We’re all crazy.

 

P.S.: Gerade kam noch ein neues Video rein, Iain Abernethy bei Jesse Enkamp.