Nach dem Seminar ist vor der „Betrachtung“ – nur was schreib ich da nun wieder rein?
(Lesedauer ca.7min)
Nun zunächst, wir haben inzwischen ein neues Jahr und müssen uns daran gewöhnen bei Datumsangaben die 17 gegen die 18 zu ersetzen. Neben dieser offensichtlichen Anpassung verändert sich der Alltag vermutlich nicht so sehr. Wir nehmen uns vielleicht ein paar wenige oder ein paar mehr Dinge vor, aber oftmals werden wir auch in diesem Jahr nicht alle Vorhaben umsetzen können. Aber um gar nicht lang auf der faulen Haut zu liegen und wieder Bewegung in den Alltag zu bringen, kommt so ein Seminar im Januar gar nicht so ungelegen. Wir konnten also froh sein, dass Olaf Krey mal wieder jede Anstrengung unternommen hat um Kyoshi Ante Brännbacka nach Deutschland einzuladen. Wer gern ein Gesicht zu Personen hat, findet eines von vielen Bildern hier (Ante links, Olaf rechts). Wenn jemand mehr über diesen großartigen finnischen Lehrer lesen möchte, könnte man zum Beispiel diesen Text durch den Google-Übersetzer schicken und mehr erfahren.
Bevor ich nun aber zum eigentlichen Seminarinhalt komme, möchte ich noch kurz ein paar Sätze über verschiedene Arten von Betrachtungen verlieren, da das Schreiben eines solchen Textes stetig wiederkehrend eine Herausforderung darstellt. Vorab, es gibt zig Arten von Betrachtungen, aber ich möchte ein paar wichtige Beispiele kurz aufführen:
– Man schreibt über den Inhalt des Seminars: Was wurde trainiert? Was wurde erzählt? Was konnte man sich merken? Was empfand man als wichtig?, …
– Man schreibt über seine Gefühle während oder nach dem Seminar: Was empfand ich als schwer? Was hat mich bewegt? Wie habe ich mich nach dem 5. Liegestütz gefühlt? Oder nach dem Abendessen? 🙂 …
– Man versucht sich in einer künstlerischen Auseinandersetzung: Kenne ich ein Reim, ein passendes Gedicht, einen Songtext, ein Bild der/das das Erlebte gut widerspiegelt oder wurde meine Kreativität geweckt und mir fällt selbst sowas ein?
Nun am besten ihr versucht alles mal und schreibt nach jeder Methode mal einen Text. Für das eine Seminar einen solchen und für das nächste Seminar eine andere Art von Text. Und irgendwann entwickelt jeder seinen eigenen ganz persönlichen Stil.
„Aber es gibt doch auch den ganz klassischen Bericht nach dem ATTA-Schema?“ Ähm ja. Man kann einen Text nach dem Prinzip, Anreise Tolles Training Abreise schreiben. Aber wer möchte das lesen? Und welche brauchbaren Informationen kann der Leser daraus mitnehmen?
Ich habe mir aus vielerlei Gründen angewöhnt die gesuchte Art von Texten für unsere Homepage ganz absichtlich nicht „Bericht“ zu nennen, weil diese Bezeichnung eigentlich nicht im Geringsten ausdrückt, welche Art von Text wir wirklich schreiben wollen. Wir nennen es daher „Betrachtung“ und nehmen uns zum Ziel, dass mit dieser schriftlichen Auseinandersetzung jeder seine ganz persönlichen Erkenntnisse auf seine individuelle Art und Weise niederschreibt.
„Und welchem Zweck dient eine Betrachtung?“ Nun zum Beispiel, der eigenen Auseinandersetzung mit dem Erlebten bspw. zur Vertiefung des eigenen Wissens, dem Teilen von erhaltenen Informationen mit anderen Karateka, der Anregung anderer Mitglieder zur Teilnahme an ähnlichen Ereignissen oder aber auch der Aktualisierung der Homepage ;-).
Bevor ich aber heute gar nicht mehr zum eigentlichen Seminarinhalt komme, werde ich nun ein paar Zeilen darüber verlieren. Grundsätzlich beschäftigte sich das Seminar mit dem Thema „KU Prinzipien & Project 16“. Unter KU-Prinzipien kann sich vielleicht der eine oder andere noch etwas vorstellen, aber was ist „Project 16“? Nun, da ich es nicht besser ausdrücken kann, als der Begründer dieses Konzeptes – Sensei Ante Brännbacka – lasst ihn das Konzept selbst kurz erläutern:
„Und was habt ihr nun in dem Seminar gemacht?“ Darauf möchte ich nun eingehen, jedoch ohne die chronologische Reihenfolge der Seminarinhalte im Detail zu beachten.
Wir haben uns zum Beispiel mit den grundlegenden Fußbewegungsprinzipien (ashi sabaki) im Karate beschäftigt, insbesondere mit „Yori-ashi“ (Fuß, der dem Ziel näher steht bewegt sich zuerst, danach der andere) und „Suri-ashi“ (Fuß, der weiter entfernt vom Ziel ist, bewegt sich zuerst, danach der andere), sowie ganzen Schritten und Drehungen. In verschiedenen Kombinationen haben wir geübt welche Fuß- oder Handtechniken sich zu den jeweiligen Schritt- und Gleitbewegungen anbieten würden und an welchen Stellen es sich ggf. ergibt, die Angriffslinie zu verlassen. Diese Prinzipien haben wir auch mit einem kleinen Spiel aufgelockert, welches ich euch an dieser Stelle jedoch vorerst vorenthalten will (das Spielen wir demnächst mal). Wichtig war hier, dass man stets darauf achten sollte, dass die Fußstellung die Ausführung der Technik in die beabsichtigte Richtung fördert und die Stellung in den meisten Fällen nicht zu breit sein sollte.
Weiterhin haben wir uns damit beschäftigt wie man „Maai“ (harmonischer Abstand) einhält und ggf. auch immer wieder korrigiert um den Gegner in der richtigen Distanz zu behalten. Aber was ist die „richtige“ Distanz? Nun gibt es die? Da es die „Richtige“ mutmaßlich nicht gibt, sondern sehr situativ und nach dem jeweiligen kämpferischen Vermögen eine sehr unterschiedliche Distanz zum Vorteil des Verteidigers sein kann, haben wir uns auch in einer Vielzahl von Übungen verschiedenen Distanzen gewidmet, wie bspw. der Übung im Clinch, in einer mittleren Distanz (Zuki trifft Kinn des Gegners) und einer Langen Distanz („o mawashi geri“ trifft Körper des Gegners). So haben wir uns über die verschiedenen Distanzen in diversen Übungen bewegt wie bspw. in Boxeinheiten oder dem Training von vereinzelten Würfen aus unterschiedlichen Szenarien, wie bspw. dem uchi mata.
Ebenfalls Bestandteil des Seminares waren wieder einige Sequenzen am Boden, die aufgrund des beschränkten Umfangs dieses Textes nicht ausführlicher erläutert werden können. Kommt ins Training, dann üben wir es. Interessant war in diesem Zusammenhang noch ein „Spiel“ am Ende der letzten Trainingseinheit. Hier hat Ante Brännbacka dazu animiert den Bodenkampf mit einem Punktesystem zu üben und dabei folgenden Vorschlag gemacht:
Beendigung des Kampfes mit
– einem Hebel – 1 Punkt
– einer „Festhalte“ des Gegners, sodass man selbst noch schlagen kann, der Gegner aber nicht – 2 Punkte
– einer Würge – 3 Punkte
– weglaufen/fliehen – 4 Punkte
Die Idee hinter der Punktevergabe in dieser Form ist, dass je nach dem welchen Übungszweck man verfolgt, andere Ziele/Motivation gesetzt werden sollte. Das Ziel den Partner zu würgen oder zu hebeln, ist sicher ein super Ziel für einen Wettkampf. Übt man Bodentechniken aber unter dem Aspekt der Selbstverteidigung, ist das Entkommen aus der Situation mutmaßlich der Königsweg um schwerwiegende Verletzungen zu vermeiden.
Im letzten Teil dieser Betrachtung möchte ich noch kurz ein paar Punkte erwähnen, die ich aus diesem Seminar mitgenommen habe, welche Gedanken, Ideen und Erkenntnisse. Zunächst möchte ich hier noch auf eine technische Korrektur eingehen, die die Körperhaltung während eine Kampfsituation betrifft. Ante machte uns darauf aufmerksam die Körperhaltung in solchen Situationen zu hinterfragen. Aber seht selbst:
Die linken Bilder: typische Körperhaltung in einer kämpferischen Situation (hochgezogene Schultern)
Die rechten Bilder: eine alternative Haltung (Schultern locker lassen)
Ante lies dabei offen was „richtig“ und „falsch“ ist, gab jedoch den Hinweis, dass die rechte Haltung in einer Vielzahl von Situationen vorteilhaft sein könnte.
Über diese technische „Korrektur“ hinaus, haben mich zwei Gedanken während und nach dem Seminar beschäftigt. Der erste betrifft die Bandbreite des KU. Dieses Wochenende konnte nur im Ansatz aufzeigen, welches technisches Repertoire KU uns anbietet. In dieser Kampfkunst reicht die mögliche Bandbreite für Übungspotentiale im Training von Kata, über Schlagen, Treten, Hebeln, Würfe, Würgen, Vitalpunkte, Clinchen, Boxen, Bodenarbeit, Fallschule, Kumite, Kihon, Flowdrills, Renzoku, Kakie, Waffen, Theorie, Selbstverteidigung, Fitness, Wettkampf und und und… . Diese Möglichkeiten sind dabei Fluch und Segen zugleich. Der Vorteil liegt klar darin, dass jeder seinen eigenen und individuellen Weg gehen kann und das das Übungspotential niemals ausgehen wird, ein Nachteil besteht aber vielleicht darin, dass es schwierig wird in allen Facetten dieser Kampfkunst sehr gut zu werden und man sich vielleicht eher zu einem Generalisten als zu einem Spezialisten entwickelt. Welche Vor- und Nachteile das hat, muss jeder für sich selbst beantworten. Neben dieser Bandbreite, wird oftmals die Meinung vertreten, dass Karate für jeden Menschen, in jedem Alter und in jeder körperlichen Verfassung geübt werden kann. Nimmt man diese beiden Ideen jedoch zusammen und setzt man mal die Brille des Trainers auf, so steht dieser vor einer riesigen Aufgabe und Herausforderung. Die Gruppe ist nicht in jedem Training gleich, sie ist heterogen von der Alters-, Fortschritts- und Fitnessstruktur und dann kommt hinzu, dass jeder etwas anderes gern übt, jeder vielleicht andere Trainingsziele hat (oder sein Ziel noch nicht kennt), jeder genau auf seinem Level unterrichtet werden möchte und nicht jeder Mensch gleich lernt. Daraus kann man eigentlich nur schlussfolgern, dass man es nicht jedem recht machen kann und in den 1,5 bis 3,5h Trainingszeit pro Woche wohl kaum jeder Aspekt der Kampfkunst ausreichend Beachtung finden kann. Wenn euer Trainer also mal wieder nicht euer Ziel vor Augen hat, sprecht doch mal mit ihm und räumt ihm gleichzeitig ein, dass er auch die Übenden mitnehmen muss oder will, die noch nicht wissen wohin ihre Reise gehen soll.
Der zweite Gedanke und letzte Punkt für diese Betrachtung ist, die schnelle und starke Übung im Training. Mir fällt immer wieder auf, so auch bei diesem Seminar, dass Übende sehr schnell sehr kräftig üben, weil es Ihnen dann mehr Spaß macht, sie sich mehr auspowern können, das Gefühl einer realistischen Auseinandersetzung haben oder warum auch immer. Gleichzeitig sieht man auch, wenn hier die Intensität und Geschwindigkeit geübt wird, bevor die Grundlagen geübt wurden. Man kann viele Techniken sehr früh schnell und stark üben, aber die Chance zur Verbesserung der Grundlagen steigt nicht mit der Stärke und der Geschwindigkeit. Aber auch wie oben angerissen kommt es eben auch hier auf das jeweilige Trainingsziel an. Wenn mein Ziel ist mich schnell auf gefährliche Situationen vorzubereiten in denen ich einfach (irgendwie) Gegenwehr leisten kann, dann brauche ich vielleicht keine Kata üben und mich nicht lang an einer kontrollierten Übung aufhalten, schließlich kann man bei „schnell und stark“ auch „Quittungen“ bekommen und daraus viel lernen. Schwieriger wird es nur dann, wenn ich erst versuche alles schnell und stark zu üben, sich Fehler einschleichen, festigen, verschlimmern und ich dann langfristig an meinem Karate arbeiten will, denn dann steht man vor der Herausforderung eintrainierte Muster wieder abzutrainieren. Ich möchte mich daher ganz und gar nicht gegen eine schnelle und starke Übung aussprechen, ganz im Gegenteil, wir sollten uns regelmäßig wieder ins Gedächtnis rufen, dass ein kämpferisches Training auch wichtig ist und seinen Wert hat, aber die Schwierigkeit besteht darin einen passenden Kompromiss für jeden zu finden und bspw. stets die Kontrolle zu behalten, die Grundlagen nicht zu vernachlässigen und seinen Partner (mit dem man vielleicht noch öfter üben will) nicht zu gefährden. Mein persönliches Vorgehen für jede Übung ist erst eine funktionale und kontrollierte Technik zu trainieren und dann dem jeweiligen Übungsziel und Partner angemessen die Geschwindigkeit und Intensität (mehr oder weniger langsam) zu erhöhen. Alles andere sollten nur geübte Trainingspartner versuchen, wenn man das Verletzungsrisiko reduzieren will. Schließlich würde auch keiner erst die „schwarze Skipiste“ hinunterfahren und danach beim Skilehrer nach einem Grundkurs fragen.
Alles in allem war dieses Wochenende eine Bereicherung mit vielen tollen Gesprächen und ausreichend Impulsen für zahlreiche Trainingsstunden. Danke an Ante Brännbacka und auf ins Dojo!