6:00 Uhr am Samstagmorgen – da muss normalerweise schon was Besonderes anstehen, um mich aus den Federn zu locken. Heute ist es irgendwie anders als sonst: Ich bin schon vor dem Weckerklingeln wach und packe meinen Rucksack. Geschlafen habe ich wenig, weil ich schon in der Nacht aufgeregt war, neben meinem Bett das „Bubishi“ in der Übersetzung von Patrick McCarthy – DEM Patrick McCarthy, dem wir das Koryu Uchinadi verdanken – und ich bin total gespannt, was mich auf meinem ersten Karate-Seminar erwartet, denn Bubishi ist auch der Titel der Ausschreibung:
„Bubishi – ehrwürdiges Wissen für moderne Selbstverteidigung“
Das Bubishi wird auch die Bibel des Karate genannt. Es ist ein altes Buch bzw. eine Sammlung von Abbildungen mit Verteidigungstechniken, die vor langer Zeit gezeichnet wurden und lange Zeit nur von Meister zu Schüler weitergegeben wurden. Außerdem enthält es z. B. Kapitel über Heilmittel und Vitalpunkte des menschlichen Körpers.
Um 7:00 hole ich Sabrina und Steve ab und wir fahren in die Pfalz. Die Autobahnen sind schön frei, so dass wir schon über eine Stunde vor Seminarbeginn an der Halle sind und ausreichend Zeit bleibt, um was zu frühstücken. Bald begrüßen Sabrina und Steve die ersten anderen KU’ler – ich werde vorgestellt und habe das Gefühl, das ist so eine Art Familie. Heute sind aber auch Übende anderer Karatestile da: Shotokan, Goju-Ryu,… Aber alles wird egal, wenn Sensei McCarthy die Halle betritt. Alle mustern ihn – er hat sich äußerlich verändert 😉 – und er macht eine sehr ausführliche Runde. Wirklich jeder wird persönlich begrüßt, manche geherzt, andere – wie ich – nach dem Namen gefragt. Für mich ein besonderes Erlebnis, denn vor einem Träger des 9. Dan stand ich noch nie, zumindest nicht wissentlich, und unwissentlich ja wahrscheinlich auch nicht.
Um 10:00 geht es los. Alle stellen sich zur Begrüßung auf. Ich sehe, dass hier viele Schwarzgurte sind, aber auch einige „Bunte“. Die große Zahl der Weißgurte erklärt sich so, dass KU’ler mit Kyu-Graden – also noch ohne Schwarz – zu stilübergreifenden Seminaren immer mit weißem Gürtel gehen. O.k., dann sieht man mir wenigstens nicht sofort an, dass ich ein unbeschriebenes Blatt bin. Nach kurzem Warm-Up erklärt Sensei, was er mit uns vorhat: Wir werden verschiedene Abwehrtechniken einüben, die dann morgen zu einer längeren Form zusammengefasst werden. Schade, dass wir am Sonntag nicht dabei sein werden, aber wir sind trotzdem gespannt. Dann wird die erste Abfolge von Techniken vorgemacht.
Einige Minuten später: Steve packt mich von hinten am Kragen. Ich schlage zu seinen „Cojones“, drehe mich und tauche unter seinen Armen durch. Ich drücke seine Arme nach unten weg und steche mit der Hand zu seinem Hals, fahre rechts vorbei und fasse seinen Kragen. Links nehme ich seinen Ellenbogen und drehe … in meinem Kopf dreht sich auch alles, weil ich mir die Abläufe einmal als Uke (Verteidiger) und einmal als Tori (Angreifer) merken muss. Zum Glück werden die Techniken mehrmals gezeigt, und Patrick McCarthy und auch der Haßlocher Bernd Otterstätter gehen herum und helfen – vielen Dank dafür.
Einige Runden mit weiteren Befreiungsaktionen später – im Stehen mit abschließendem Fegen, im Liegen mit einer Beinklammer u. a. – gehen wir erstmal in die Mittagspause.
Nach dem Essen lasse ich mich von Angela zu etwas Randori am Boden überreden. Eieiei, auch da kann man was lernen: Kraft ist nicht alles! Anbei: schöne Grüße und danke nochmal!
Als Warm-Up nach der Mittagspause werden wir in zwei Gruppen eingeteilt: Die KU-Fremden und die Neuen lernen Kaishu-Waza: Diese Form soll uns laut Sensei daran gewöhnen, feste getroffen zu werden. Super, so unverhofft kommt man auf einem Seminar noch zu einer kompletten Form, die man vorher gar nicht konnte. Die anderen, die das bereits draufhaben, gehen in dieser Stunde noch verschiedene andere Nyumon-Formen durch.
Dann geht es noch einmal mit diversen Techniken weiter, wir hebeln Arme und hängen im Schwitzkasten, immer wieder unterbrochen durch Hinweise und Erklärungen. Unter anderem erklärt Sensei McCarthy, dass das Bubishi die Quelle aller Karatestile war. Schon die legendären Begründer der großen Karatestile haben dieselben Verteidigungsprinzipien gelernt wie wir heute, und daraus die verschiedenen Stile entwickelt. Auch wenn die Kata sich im Detail unterscheiden, so sind sie doch ähnlich. Zum Thema Selbstverteidigung erklärt Sensei, dass gewaltsame Konflikte niemals wie in einem Bruce-Lee-Film ablaufen, wo man immer brav stehen bleibt und sich abwechselnd eine reinhaut oder –tritt. Im wahren Leben gehen solche Konfrontationen immer in den Clinch über, und je mehr „Werkzeuge“ man in der Kiste hat, umso größer ist die Chance, dass man am Ende nicht am Boden liegen bleibt. Aus diesem Grund ist es wichtig, auch über seinen Stil hinaus über den Tellerrand zu blicken und nach brauchbaren Werkzeugen Ausschau zu halten. Ein Mittel, um die Werkzeuge auch „griffbereit“ zu haben, sie also intuitiv abrufen zu können, sind die Tegumi, die wir im KU ständig üben. Man kann im Ernstfall nicht erst über eine Technik nachdenken, dann ist es zu spät. Wenn unser Körper sofort reagiert, ohne dass wir nachdenken müssen, dann haben wir gute Karten. Deswegen freue ich mich auch schon auf nächsten Freitag, denn dann ist wieder Training in Gärtringen!
Am Ende des Seminars am Sonntag wurde noch das nachfolgende Video aufgenommen. Viel Freude beim Ansehen!
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