Ein Trainingslager mit all seinen Facetten in ein paar wenige Worte zu fassen ist keine leichte Aufgabe. Ebenso wie der gemeinsame Aufenthalt mit knapp 40 anderen Karateka auf verhältnismäßig engem Raum. Als ich das erste Mal an den Frauensee gefahren bin, gingen mir unendlich viele Gedanken durch den Kopf. Wie sind wohl die Leute, mit denen man die kommenden 8 Tage verbringt? Werden die Trainings zu anstrengend? Bin ich fit genug um mit den anderen mitzuhalten?
Das diesjährige Shochu Geiko stand unter dem Motto „Kata“ und begann mit Dinahs Aufgabe, uns darüber Gedanken zu machen, was Kata für jeden einzelnen von uns bedeutet. Im Japanischen gibt es zwei unterschiedliche Kanji für ‚kata‘, die sich in ihrer Bedeutung sehr ähnlich sind, aber dennoch unterscheiden. Während bildlich gesprochen für eine feste Form steht, in die man Erde oder Lehm füllen kann, beschreibt eher einen festen Rahmen, der beispielsweise von Sonnenlicht durchdrungen werden kann und je nach Stand der Sonne unterschiedliche Schatten wirft. Ein Trainingslager ist ebenfalls eine solche Form. Es bietet einen festen zeitlichen Rahmen, in dem genau geregelt ist, dass dreimal am Tag zwei Stunden trainiert wird, es um 12 Uhr Mittagessen gibt und man am Sonntag nach dem Frühstück wieder die Heimreise antritt. Das Schöne daran ist, dass jeder diese Form individuell füllen und selbst mitbestimmen kann, welche Schatten sie wirft. Ist man aufgeschlossen und sucht den Kontakt zu anderen Leuten, wird man Freundschaften knüpfen können, die lange über die gemeinsame Zeit im Trainingslager hinaus reichen. Gibt man bei den Übungen und Techniken in den Trainings sein Bestes, wird man auch lange nach der Trainingswoche noch etwas davon haben – seien es eine bessere Kondition oder ein erweitertes technisches Know-how. Stellt man während des Trainings oder im Anschluss daran Fragen, wird man Antworten bekommen, die dazu beitragen, dass man bestimmte Dinge besser versteht und einen Schritt voranschreiten kann.
Kata ist ein Mittel zur Ausbildung des Körpers (Ray L. Dalke).
Das merkt man in einem Trainingslager Tag für Tag aufs Neue. Wir üben und wiederholen Formen, damit wir diverse Körperbewegungen verstehen und verinnerlichen, die uns helfen, Techniken effizient auszuführen. Dies ist sowohl bei tsuki waza als auch bei komplexeren Formen wie der matsumura no patsai der Fall. Der ganze Körper muss die Bewegungen der Extremitäten unterstützen, was oft leichter gesagt ist als getan. Beim Umgang mit Kurz- und Langwaffen gilt das gleiche Prinzip – der Unterschied liegt lediglich darin, dass einem die Waffen sofort eine Rückmeldung geben, wenn die Sache noch nicht rund läuft. Dies äußert sich zum Beispiel durch diverse Rückmeldungen an Kopf oder Knie.
Ein Trainingslager bietet zudem die Chance mit vielen anderen Karateka zu üben, die unterschiedlich groß, stark und fortgeschritten sind. Oftmals benötigt es Übungspartner, die sich beispielsweise deutlich von der eigenen Größe unterscheiden, um zu bemerken, dass gewisse Körperprinzipien noch nicht verstanden wurden.
Kata ist eine Alternative zum Stressmanagement (Patrick McCarthy).
Es gibt Momente, da kann man sich in einer Kata voll und ganz verlieren und alles andere um sich herum ausblenden. Man läuft eine Form, fühlt sich weder unter- noch überfordert und kommt in einen Flow-Zustand, der einen durch die Form trägt und alle anderen psychischen und physischen Belastungen ausblendet.
Ein Trainingslager ist da recht ähnlich. Man konzentriert sich eine ganze Woche lang auf Dinge, die man liebt und gerne tut und für die man sich im stressigen Alltag oft deutlich zu wenig Zeit nehmen kann. Im Mittelpunkt steht dabei die Übung, die alles andere in den Schatten stellt. Man muss sich keine Gedanken ums Zubereiten von Essen, den Haushalt oder die Arbeit machen, sondern kann sich voll und ganz der Übung widmen. Ein Luxuszustand, den man in vollen Zügen genießen sollte. Auch wenn ein Trainingslager teilweise ziemlich fordernd ist, gibt es nur sehr wenige bis keine Situationen, die wirklich ÜBERfordern. Man muss bereit sein an seine persönlichen Grenzen zu gehen und wird anschließend überrascht sein, zu was man eigentlich fähig ist. Erstaunlich ist ebenfalls, wie schnell man während der Woche in einen Flow verfällt – kaum hat man sich eingelebt, ist die Woche auch schon wieder vorbei.
Kata ist die Formung des Geistes (Mabuni Kenwa).
Wenn man eine Kata läuft, ist die geistige Haltung mindestens genauso wichtig wie die Ausführung der Techniken. Dazu gehören unter anderem die Verbeugung vor und nach der Übung, sowie das Bewusstsein dafür, welche Szenarien man sich gerade vorstellen muss, um die Techniken funktionsgemäß auszuführen. Ebenfalls wichtig ist, dass man während einer Kata seine ganze Konzentration auf die Übung richtet. Auch wenn man sich verläuft oder an der ein oder anderen Stelle nicht mehr weiter weiß, sollte man nicht aufgeben und die Übung abbrechen, sondern bis zum Ende durchhalten.
In einem Trainingslager ist dies ebenfalls der Fall: Während der Trainings sollte man seine Konzentration auf die Sache an sich und das, was der Lehrer sagt, richten. Alle anderen Gespräche sind während dieser Zeit nicht wichtig und sollten nach den Trainings geführt werden. Im Vordergrund stehen also das Durchhaltevermögen und die Entwicklung des Kampfgeistes, auch wenn man zwischendurch mal einen Durchhänger hat.
Kata ist noch viel mehr als das, was ich in den letzten Zeilen niedergeschrieben habe. Für mich persönlich bedeutet Kata in erster Linie ein Kampf mit sich selbst, den man immer und immer wieder aufs Neue austragen muss. Zum Beispiel dann, wenn man sich fragt, ob man im Trainingslager mit den anderen mithalten kann oder lieber zu Hause bleiben soll. Oder wenn es darum geht neue Kontakte zu knüpfen und Leute anzusprechen, die man noch nicht so gut kennt. Kata ist Überwindung. Und für mich persönlich gibt es keine bessere Möglichkeit Tag für Tag aufs Neue mit sich zu kämpfen, als in einem Trainingslager, in dem man nette Leute um sich herum hat, die die Leidenschaft für die Kampfkunst teilen und einem tagtäglich zur Seite stehen und Mut zusprechen, auch wenn man schon völlig fertig ist. Daher möchte ich insbesondere bei Olaf, aber auch bei Hendrik, Sven, Dinah, Andrea, Bernd, Anders und all den anderen bedanken, die mir während den 8 Tagen immer wieder eine Stütze waren und dazu beigetragen haben, dass wir eine tolle gemeinsame Woche am Frauensee verbringen konnten.